102 Schulbücher eines SchülerInnenlebens

Eine Analyse von 102 Schulbüchern
Cover-Illustration © fotomek / Fotolia.com
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Schulbücher enthalten nicht nur das Fachwissen der Themengebiete, die laut Lehrplan im entsprechenden Schuljahr zu unterrichten sind, sondern sie vermitteln sozusagen „zwischen den Zeilen“ nebenbei und unbemerkt auch geschlechtsrollenstereotype Inhalte. Dies wird in Deutschland bereits seit 1967 von Fachleuten – meist Fachfrauen – kritisiert.

Die versteckten Inhalte wirken sich unterschiedlich unter anderem auf das  Selbstbewusstsein und die Leistungsmotivation von Schülern und Schülerinnen aus. Sie sind eine der Ursachen, warum sich junge Frauen – trotz im Schnitt besserer Schulabschlüsse – auch heute noch häufig für „typisch weibliche“ Berufe entscheiden. Und warum Frauen auf der Karriereleiter meist weit unter ihren männlichen Kollegen zurückbleiben und im Schnitt knapp ein Viertel weniger Lohn als diese erhalten.

Durch die Analyse von 102 Schulbüchern werden diese verborgenen Inhalte sichtbar gemacht. Denn nur, was wahrgenommen werden kann, kann auch verändert werden.

Was wurde konkret untersucht:

In der vorliegenden Arbeit wurden – nach einer kurzen theoretischen Einführung in das Thema – 102 Schulbücher eines SchülerInnenlebens untersucht. Die Analyse gliedert sich in zwei Teile, Klasse 1–6 und Klasse 7–13 (und ist darin begründet, dass Ergebnisse bereits nach der „Halbzeit“ vorliegen sollten). Untersucht wurde: Wie viele Frauen und Männer sind jeweils abgebildet und wie viele kommen im Text vor? Wie viele und welche Berufe werden von Frauen dargestellt und wie viele und welche von Männern? Wie viele SchulbuchautorInnen und -illustratorInnen und wie viele SchulbuchherausgeberInnen gibt es? Im ersten Teil (Klasse 1–6) wurde zusätzlich geprüft, wie viele AutorInnen von Texten, Hauptpersonen, Bildunterschriften, berühmte Persönlichkeiten, sportliche Aktivitäten, Überschriften, die sich auf ein Geschlecht beziehen (nur in Fremdsprachenwerken) und welche sprachliche Formen in Anweisungen im Schulbuch vorkommen. 134 Diagramme veranschaulichen die Ausführungen.

Das Buch: „Die 102 Schulbücher eines SchülerInnenlebens in Baden-Württemberg 1996 – 2009“ gibt es als Taschenbuch im DIN A4-Format und kann unter der ISBN 978-3-7386-2883-8 in jeder Buchhandlung und im Onlinehandel für 24,99 Euro bestellt werden. Das Buch gibt es außerdem als E-Book unter der ISBN 978-3-7392-5705-1 für 16,99 Euro im Onlinehandel.

Leseprobe aus dem Buch

Auszug aus Kapitel 1.1 Eigene Motivation für Buchanalysen

Bei der Entscheidung, zuerst Bilderbücher und später Schulbücher zu analysieren, habe ich mich von verschiedenen Autorinnen inspirieren lassen. Frau Matthiae, die von Beruf Diplom-Biologin ist, hat sich z. B. mit den unterschiedlichen Darstellungen der Geschlechter im Bilderbuch auseinandergesetzt und mit dem Einfluss, den die Bilderbücher auf die Entwicklung, gerade auch auf die geschlechtsspezifische Entwicklung von Kindern nehmen.

Cornelia Hagemann hat 1981 ihre Diplomarbeit mit dem Titel „Bilderbücher als Sozialisationsfaktoren im Bereich der Geschlechtsrollendifferenzierung“ veröffentlicht.

Der Begriff „Sozialisation“ bedeutet, dass Kinder in die Gesellschaft, in die sie hineingeboren werden, hineinwachsen sollen. Dies geschieht erstens durch die Erziehung im Elternhaus, im Kindergarten und in der Schule. Aber Sozialisation ist mehr als bewusste Erziehung und umfasst auch Einflüsse der erweiterten Familie und des Freundeskreises der Eltern wie auch Einflüsse von Gleichaltrigen und der sozialen Umwelt, mit der das Kind in Kontakt ist. Es geht darum, dass die Kinder lernen, die jeweiligen Normen und Werte dieser Gesellschaft zu übernehmen. Sie sollen lernen, was erlaubt und was verboten ist, was für richtig und was für falsch befunden wird, was für gut und was für schlecht erachtet wird.

Astrid Matthiae zitiert die Ausführungen von Cornelia Hagemann wie folgt:

„Die Zeit des Bilderbuchalters fällt, darauf weist Cornelia Hagemann hin, mit der Zeit, in der Mädchen und Jungen ihre Geschlechtsidentität entwickeln, zusammen. Deswegen ist es nicht gleichgültig, mit welchen Bilderbüchern sie umgehen. Bilderbücher sind natürlich nicht der einzige Einflußfaktor, dem Mädchen und Jungen ausgesetzt sind […] Doch gerade mit Bilderbüchern beschäftigen sich Kinder intensiv. Wer hat nicht so manches Bilderbuch mindestens schon 20mal vorgelesen, korrigiert von der/dem Dreijährigen, wenn ein Satz in seiner Wortfolge nicht genau eingehalten wurde. Und während wir mehr oder weniger teilnahmsvoll vorlesen, hören die Mädchen und Jungen zu und sehen sich die Bilder an, immer wieder…“ (Astrid Matthiae 1990, S. 8)

Dr. Ursula Scheu, von Beruf Diplom-Psychologin, hat den Klassiker „Wir werden nicht als Mädchen geboren, wir werden dazu gemacht“ geschrieben und erläutert dort u. a. die geschlechtsspezifische Erziehung und die in den Büchern vorhandenen Geschlechtsrollenmodelle. Wie diese Rollenmodelle konkret aussehen und welche Auswirkungen sie auf Kinder haben, beschreibt sie folgendermaßen:

„Untersuchungen zeigen, daß die geschlechtsspezifischen Rollenmodelle vom Bilderbuch bis zur Fernsehsendung noch konservativer sind als die Realität.“ (Ursula Scheu, 1997 S. 97)

Auch Leonore Weitzmann hat den geschlechtsrollenspezifischen Einfluss von Bilderbüchern auf Vorschulkinder 1972 in den USA untersucht. Damals gab es noch keine vergleichbare Untersuchung in Deutschland. Ursula Scheu weist in ihren Ausführungen zum Thema Bilderbücher auf diese Untersuchung hin:

„Durch das Angebot erwachsener Rollenmodelle lernen Mädchen und Jungen, was man von ihnen für die Zukunft erwartet. Weitzmann fand, daß das Image der erwachsenen Frau in den Bilderbüchern ebenso begrenzt stereotypisiert ist, wie das des kleinen Mädchens. Wieder einmal ist die Frau passiv, der Mann aktiv. Die Frauen sind im Haus, die Männer außer Haus. Die Frauen verrichten im Haus nahezu ausschließlich Dienstleistungsfunktionen, umsorgen Mann und Kinder. Männer führen, Frauen folgen; Männer retten, Frauen werden gerettet. Die einzigen nicht stereotypen Rollen sind eindeutig mystische Rollen, also keine realen Möglichkeiten. Im Kontrast dazu stehen die Rollen der Männer, die variationsreicher und interessanter sind. Sie sind z. B. Lagerverwalter, Hausbauer, Könige, Geschichtenerzähler, Mönche, Kämpfer, Fischer, Polizisten, Soldaten, Abenteurer, Väter, Köche, Pfarrer, Richter, Ärzte und Bauern.

Frauen werden nicht einmal entsprechend ihrer Realität dargestellt. So gab es in den untersuchten Bilderbüchern nicht eine einzige Frau, die einen Beruf hatte. Und das in den USA, einem Land, in dem 40% der Frauen, also nahezu 30 Millionen Frauen erwerbstätig sind.“ (Ursula Scheu, 1997 S. 101)

Und sie erklärt, wie Bilderbücher ihre Wirkung entfalten. Sie äußert genau wie Astrid Matthiae, dass die Tatsache, dass Bilderbücher wieder und wieder angeschaut und vorgelesen werden, bei der Entstehung der Geschlechtsidentität eine besondere Rolle spielt:

„Welche Rolle spielen dabei die Bilderbücher? Durch sie lernen Mädchen und Jungen etwas über die Welt außerhalb ihrer unmittelbaren Umgebung. Sie lernen, was andere Mädchen und Jungen tun, sagen und fühlen. Sie lernen, was für Mädchen richtig und falsch ist und was von ihnen in diesem Alter erwartet wird. Bilderbücher sind besonders einflußreich, da sie von dem Kind immer und immer wieder angesehen und gelesen werden – und dies in einer Zeit, in der die Entwicklung der Geschlechtsidentität besonders entscheidend ist. Die Rollenmodelle in Bilderbüchern erreichen das Kind, noch bevor andere Sozialisationseinflüsse wie Schule, Lehrer, Gleichaltrige zum Tragen kommen.“ (Ursula Scheu, 1997 S. 97)

Dass ich mich dann zur Analyse von Schulbüchern entschlossen habe, hängt damit zusammen, dass Schulbücher „aufgezwungene“ Bücher sind. Denn wer in Deutschland zur Schule geht, die und der muss diese Bücher verwenden – ob es ihr oder ihm gefällt oder nicht. Schulbücher enthalten nicht nur das Fachwissen der Themengebiete, die laut Lehrplan im entsprechenden Schuljahr zu unterrichten sind, sondern sie vermitteln sozusagen „nebenbei“ und unbemerkt auch geschlechtsrollenstereotype Inhalte (siehe im Folgenden unter „Heimlicher Lehrplan“). Dies gilt übrigens auch für andere Bücher, wie Bilderbücher oder Jugendbücher. Diese geschlechtsrollenstereotypen Inhalte werden bereits seit 1967 von Fachfrauen und wenigen -männern kritisiert, da sich diese zusammen mit den Interaktionen von Lehrkräften und SchülerInnen unterschiedlich auf die Entwicklung von Selbstbewusstsein und die Entstehung der Leistungsmotivation bei Mädchen und Jungen auswirken, wie nachfolgend ausführlicher erläutert wird. Durch eine Schulbuchanalyse werden diese versteckten Inhalte sichtbar gemacht, die ohne Analyse nicht ins Auge fallen. Erst durch das Aufzählen und Auszählen der verschiedenen Geschlechter in Bild, Text und der verwendeten Sprache kann das Ausmaß des Einflusses erkannt werden, der sonst verborgen bleiben würde.

Auch wenn ich Schulbücher analysiert habe und die Ergebnisse darstelle, ist mir bewusst, dass es keine direkte und lineare Verbindung zwischen den Inhalten eines bestimmten Buches und einem konkreten Verhalten einer Schülerin oder eines Schülers gibt. Und einerseits ist die Benutzung von Schulbüchern auch nur ein Teilaspekt des Schulalltags. Es gibt weitere Teilaspekte wie z. B. der Umgang von SchülerInnen untereinander und die Kommunikation zwischen Lehrkräften und SchülerInnen. Andererseits bleiben die Schulbücher eben nicht ohne Wirkung, weil es nicht nur ein Buch gibt, sondern z. B. – wie bei meiner Analyse – 102 innerhalb eines SchülerInnenlebens und wenn sie sich in den Inhalten und Darstellungen – bezüglich der geschlechtsrollenstereotypen Aspekte – ähneln, dann wirken sie einfach über die vielfachen, ständigen Wiederholungen. Wenn dann die Interaktionen z. B. zwischen Lehrkräften und SchülerInnen in die gleiche Richtung zielen und weitere „Wiederholungen“ darstellen, dann bleibt dies nicht ohne Auswirkung sowohl auf Schülerinnen als auch auf Schüler. Da Schulbücher – wie auch Bilderbücher – ein Sozialisationsfaktor sind, sind Schulbuchanalysen aus meiner Sicht wichtig und sinnvoll. Denn wenn sich die SchulbuchautorInnen, SchulbuchillustratorInnen, die SchulbuchherausgeberInnen und die Verantwortlichen für die Schulbuchzulassung des Ungleichgewichts bewusst sind, kann das Augenmerk bei neuen Schulbüchern darauf gerichtet werden, zukünftig geschlechtergerechte Schulbücher herzustellen.

Da mir bekannt war, dass es in Deutschland schon seit 1967 – mit der Schulbuchanalyse von Inge Sollwedel – Kritik an Schulbüchern gab, wollte ich selbst prüfen, ob diese und alle folgenden Arbeiten zu diesem Thema inzwischen – Mitte der 1990er Jahre bis 2009 – Früchte getragen hatten. Außerdem wollte ich einmal alle Schulbücher eines SchülerInnenlebens vollständig erfassen, denn mir ist nicht bekannt, dass dies in der Vergangenheit bereits geschehen ist. Ich wollte herausfinden, was sich verändert hat und aufzeigen, in welchen Bereichen noch weiterhin Veränderungsbedarf besteht.

Quellen dieses Auszugs:

Astrid Matthiae (1990) „Vom pfiffigen Peter und der faden Anna – Zum kleinen Unterschied im Bilderbuch“ Frankfurt, Fischer Taschenbuchverlag

Ursula Scheu (1997) „Wir werden nicht als Mädchen geboren wir werden dazu gemacht“ Frankfurt, Fischer Taschenbuchverlag

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